Energy Transition Outlook 2022“: Was uns erwartet – wie es weitergeht

Zeitreise ins Jahr 2050

Industrie ohne Energie? Völlig undenkbar! Da produziert keine Fabrik. Da fährt kein LKW. Da wird kein Büro beheizt. Im gefühlten Standbild der Dinge fließen auch keine Daten. Das Problem mit der Energie ist demnach ihre totale Relevanz. Vor diesem Hintergrund verwundert es weniger, wenn selbst rationale Akteure ausWirtschaft und Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft emotional geprägte Reaktionen von Existenzangst bis Begeisterung an den Tag legen, wenn nur einziges Wort fällt: Energiewende. Das größte Modernisierungs- und Investitionsprojekt der Menschheit hält die Welt in Atem. Eine Studie aus Norwegen sagt: Bis 2050 bleibt in Sachen Energie kaum ein Stein auf dem anderen. Ein Ausblick.

So zentral die Energiewende für eine sichere, umweltverträgliche und wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft auch sein mag: Sie ist und bleibt eine Herkulesaufgabe. Das Leitmotto „Weg von nuklearen und fossilen Brennstoffen, hin zu erneuerbaren Energien und mehr Energieeffizienz“ liest sich natürlich gut. Es bedeutet unterdessen einen Wandel mit disruptiven Zügen. Traditionelle Geschäftsmodelle und ganze Infrastrukturen, Produkte, Technologien und Dienstleistungen müssen umstrukturiert werden. Das Besondere daran: Es betrifft ausschließlich alle Teile der Wirtschaft, weil alle und alles mit Energie zu tun haben. Sei es bei Erzeugung, Speicherung, Wandlung, Verteilung oder Verbrauch von Energie in Industrie, Transport und Gebäuden.

Die etwas andere Herausforderung

„Der Kapitalbedarf der Energiewende ist immens, die Infrastrukturherausforderungen sind gigantisch, der angenommene Ressourcenverbrauch außergewöhnlich hoch“, urteilt Frank Lagemann, Vorstandsvorsitzender der GreenGate AG. „Es ist davon auszugehen, dass die Transformation der Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft vor allem aber deswegen so viel abverlangt, weil sie zu den größten Veränderungsprozessen zählt, für die es weltweit keine Blaupause gibt.“ Bekannt ist immerhin, worauf das Mammutprojekt, das Strom, Wärme und Mobilität klimafreundlich und günstig bereitstellen soll, beruht: auf neuen Schwerpunkten bei den Primärenergiequellen, einem hoch effizienten, diversifizierten Umgang mit Energie (Flexibilitätsoptionen; Lastenmanagement, Smart Grid etc.) und auf neuer, smart gemanagter Infrastruktur. „Da kommen wir ins Spiel“, sagt Frank Lagemann, „werden seine Assets über die digital gestützte Instandhaltung und Betriebsführung von Beginn an nachhaltig verwaltet, dokumentiert und organisiert, kann zu absolut vertretbaren Kosten genau die Verfügbarkeit vorhalten, die es für die Energiewende letztlich braucht.“

Trends der Transformation

Tatsächlich hat die Transformation nach eher stillen Jahren zuletzt wieder Fahrt aufgenommen, weil ihre existenzielle Bedeutung offen zu Tage trat. Konsens ist spätestens seit 2022, dass Energie nicht nur ein Krisensymptom ist, sondern eine knappe, unstete und teure Ressource bleibt. Zunächst wird sich daran auch nichts ändern, führt die global viel beachtete Studie „Energy Transition Outlook 2022“ (ETO) des norwegischen Unternehmens DNV aus. Die Experten für Assurance und Risikomanagement prognostizieren für die nächsten 37 Jahre markante Verschiebungen im gesamten Kreislauf von Primärenergie bis Endverbrauch.

Durchaus bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich das Tempo der Energiewende kurzfristig zwar weiter verschärft. Die Energiekrise durch den Nachfrageschock der Pandemie und Angebotsschock infolge der russischen Invasion in der Ukraine wirkt aber nur unwesentlich aufs langfristige Bild ein. Die Treiber der Transformation der nächsten Jahrzehnte bleiben sinkende Kosten für erneuerbare Energien, die umfassende Elektrifizierung infolge verdoppelter Stromerzeugung und steigende CO2-Preise. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung soll bis 2050 bei 83 % liegen. Der fossile Anteil am Energiemix macht 2050 demgegenüber weniger als 50 % aus.

Energy Transition Outlook graphics copyright DNV

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Fortschritt trotz Turbulenzen

Remi Eriksen, Group Präsident und CEO DNV, blickt zuversichtlich in die Zukunft: „Die Turbulenzen auf dem Energiemarkt ändern den Weg der Dekarbonisierung bis zur Mitte des Jahrhunderts nicht dramatisch.“ Und: „Wir treten in eine längere Phase ein, in der die Effizienzzuwächse in unserem Energiesystem die Rate des Wirtschaftswachstums übersteigt. Langfristig bedeutet dies, dass die Welt im Verhältnis zum BIP deutlich weniger für Energie ausgeben wird.“ Als stärksten Motor der globalen Energiewende macht Remi Eriksen „die schnell sinkenden Kosten für Solar- und Windenergie“ aus: Sie würden „die derzeitigen kurzfristigen Schocks für das Energiesystem aufwiegen“.

Spezialfall Europa

Und Europa? Europa strebt nach Energiesicherheit und will deswegen unabhängiger werden. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird demnach ebenso beschleunigt wie Investments in Energieeffizienz. Immerhin soll Gas 2050 nur noch 10 % des europäischen Energiebedarfs decken, verglichen mit 25 % in 2022. Die viel beschworene Renaissance der Atomkraft bleibt der Studie zufolge gedeckelt. Der Anteil der Kernenergie am Strommix wird von heute 10 % auf 5 % im Jahr 2050 sinken. Und Wasserstoff als Ass im Ärmel? Wasserstoff deckt im Jahr 2050 laut ETO nur 5 % des weltweiten Energiebedarfs. Reinwasserstoff-Nutzung etabliert sich aber ab Anfang der 2030er Jahre in derivativer Form (Ammoniak, E-Methanol, E-Fuels). Eine Wasserstoffnutzung im Schwerverkehr ist ab Ende der 2030er Jahre zu erwarten.

12 PROGNOSEN

Energy Transition Outlook 2022

  1. Die Energiekrise durch Nachfrageschock der Pandemie und Angebotsschock infolge der russischen Invasion in der Ukraine wirkt nur unwesentlich auf das langfristige Bild ein. Treiber der Transformation der nächsten Jahrzehnte bleiben demnach: sinkende Kosten für erneuerbare Energien, die Elektrifizierung infolge verdoppelter Stromerzeugung und steigende CO2-Preise.
  2. Krisenbedingt treten drei kurzfristige Effekte ein: Die Energiepreise bleiben hoch. Das Tempo der Energiewende verschärft sich. Der Fokus liegt auf Energiesicherheit.
  3. Europa will den Ausbau seiner erneuerbaren Energien und Anstrengungen zur Energieeffizienz beschleunigen, um seine Energieunabhängigkeit zu erhöhen. Gas wird 2050 nur noch 10 % des europäischen Energiebedarfs decken, verglichen mit 25 % in 2022.
  4. In der übrigen Welt könnte die Bekämpfung der hohen Energie- und Nahrungsmittelpreise die Dekarbonisierung auf der Prioritätenliste nach unten verschieben; teils wird die Umstellung von Kohle auf Gas rückgängig gemacht, auch wenn Kohle nach ihrem Höhepunkt 2014 absehbar aus dem Energiemix ausscheiden wird.
  5. Das Wachstum und die Ökologisierung der Stromerzeugung bleiben die treibende Kraft des Übergangs, wobei der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung bis 2050 bei 83 % liegen soll. Der fossile Anteil am Energiemix liegt 2050 knapp unter der 50 %-Marke.
  6. Der Ölverbrauch nähert sich schon seit einigen Jahren einem Plateau und wird ab 2030 drastisch zurückgehen.
  7. Die Sorge um die Energiesicherheit führt zu einem erneuten Interesse an Kernenergie. Der Anteil der Kernenergie am Strommix wird trotzdem von heute 10 % auf 5 % im Jahr 2050 sinken.
  8. Trotz kurzfristiger Herausforderungen bei den Rohstoffkosten ist das Kapazitätswachstum von Solar und Wind unaufhaltsam: Bis 2050 werden sie um das 20- bzw. 10-fache gewachsen sein. Solar- und Windenergie sind an den meisten Standorten bereits heute die billigste Form der Stromerzeugung.
  9. Wasserstoff deckt im Jahr 2050 nur 5 % des weltweiten Energiebedarfs, Reinwasserstoff-Nutzung etabliert sich ab Anfang der 2030er Jahre in derivativer Form (Ammoniak, E-Methanol, E-Fuels); Wasserstoffnutzung im Schwerverkehr ist ab Ende der 2030er Jahre zu erwarten.
  10. Grüner Wasserstoff aus erneuerbaren Energien wird im Laufe der Zeit dominieren; Blauer Wasserstoff und blaues Ammoniak behalten eine langfristig wichtige Rolle.
  11. Der globale "Meilenstein" für Elektrofahrzeuge (EV) – der Zeitpunkt, an dem der Anteil der EV an den Neuwagenverkäufen 50% übersteigt – ist 2033 zu erwarten.
  12. Die CO2-Emissionen verbleiben auf Rekordniveau. Die Welt steuert auf eine Erwärmung um 2,2°C zu; um bis 2050 Netto-Null zu sichern, ist eine konfliktbereite Politik erforderlich; der erwartbare Übergang eröffnet ungeahnte Chancen für neue und bestehende Akteure im Energiebereich.